Es war einmal ein Mädchen…nennen wir sie Yael.
Yael wünschte sich so sehr abends von ihren Eltern eine Gutenachtgeschichte zu hören. Jedes Mal, wenn sie vor dem Schlafengehen fragte, hieß es: „Heute nicht, Liebes.“ Meistens kam dann noch etwas dazu wie „der Tag war zu anstrengend“, „ich bin müde“ oder „das schaffst du auch ohne, du bist doch schon groß“. Klar war sie das, aber manchmal wäre es schön, wenn Mama oder Papa ihr eine Geschichte vorläsen. Daher ging sie meistens ohne eine Geschichte ins Bett oder dachte sich in Gedanken aus, wie es wäre, wenn sich jemand an ihr Bett setzte und eine Geschichte erfände. Aber davon wurde sie oft traurig.
Schließlich nahm sich Yael ein Herz und fragte ihre Lehrerin eines Tages nach der letzten Unterrichtsstunde, ob es ein Buch mit Vorlesegeschichten in der Schulbibliothek gäbe. Die Lehrerin bat sie, ihr zu folgen und sie gingen in die Schulbibliothek. Dort suchte die Lehrerin ein Buch und reichte es dann Yael mit den Worten: „Das gefällt dir und deinen Eltern bestimmt.“ Yael verstaute das Buch in ihrem Schulrucksack und ging erfreut nach Hause.
Als Yael am Abend vor dem Schlafengehen ihren Eltern das Buch in der Hoffnung zeigte, dass sie es nun einfach hätten, denn sie bräuchten abends nur noch das Buch aufzuschlagen, hörte sie von ihrer Mutter nur: „Wie schön, dann kannst du ja im Bett lesen.“ Enttäuscht brachte Yael das Buch in ihr Zimmer. Es gab also wieder keine Gutenachtgeschichte vor dem Schlafengehen.
In ihrem Zimmer angekommen, wollte sie das Buch wieder in den Schulrucksack packen, doch stattdessen glitt es ihr aus den Händen. Das Buch schlug auf den Boden auf und plötzlich glitzerte es.
Leicht erschreckt blickte Yael auf das offene Buch und sah ein kleines, glitzerndes Wesen in der Mitte des Buches sitzen. Es hatte einen menschlichen Körper mit Armen und Beinen, graue, lockige Haare und trug einen hellblauen Anzug, der fast so aussah, wie der Burkini, den ihre Freundin Aysha beim Schulschwimmen trug. Auf dem Rücken des Wesens waren dunkelblaue Flügel mit hellblauen und weißen Punkten, wie bei einem Schmetterling, nur viel größer. Das Wesen sah aus, als hätte es sich genauso erschreckt wie Yael.
Yael setzte ich neben das Buch damit das Wesen nicht so weit zu ihr hochgucken musste. „Wer bist du denn?“
Das Wesen stand auf und starrte Yael an. „Ich bin eine Bücherfee.“
„Und wie ist dein Name?“
„Was meinst du damit?“ Die Bücherfee guckte erstaunt. „Hast du denn einen Namen?“
„Klar doch,“ sagte Yael, „sonst kannst dich doch niemanden rufen. Ich bin Yael. Hast du denn keinen Namen?“
„Nein.“ Die Bücherfee guckte traurig. „Gibst du mir einen?“
Yael überlegte. Irgendwie erinnerte sie die Bücherfee an ihre Oma Seva, die so weit weg wohnte, dass Yael sie außer auf Fotos noch nie gesehen hatte und bisher mit ihr nur am Telefon gesprochen hatte.
„Ich nenne dich Seva,“ sagte Yael.
Die Bücherfee grinste breit und verbeugte sich. „Mein Name ist Seva.“
Yael grinste zurück. „Hallo Seva. Wohnst du in dem Buch?“
„Natürlich. Und ich tauche immer dann auf, wenn jemand eine Geschichte vorgelesen haben möchte.“
Yael bekam große Augen. „Liest du mir was vor?“
„Gerne,“ sagte Seva und flog auf, so dass sie auf Augenhöhe mit Yael war. „Aber dafür musst du im Bett sein.“
Vorsichtig nahm Yael das offene Buch, trug es zum Bett und legte es geöffnet ans Fußende. Dann schlüpfte sie unter die Decke und legte sich hin.
„Sehr gut,“ sagte Seva und flatterte auf den Nachttisch. „Nun werde ich dir eine Geschichte aus dem Buch erzählen.“
„Kennst du die alle auswendig?“ fragte Yael.
„Selbstverständlich,“ sagte Seva. „Schließlich wohne ich in dem Buch.“
Und Seva begann zu erzählen: „Es war einmal…“
Als einige Stunden später Yaels Mutter in das Zimmer ihrer Tochter trat und bemerkte, dass die Nachttischlampe noch an war und das Buch am Fußende des Bettes lag, während ihre Tochter schlief, lächelte sie. Yaels Mutter fühlte sich an ihre eigene Kinderzeit erinnert, als sie spät abends immer beim Lesen im Bett eingeschlafen war. Vielleicht war ihre Tochter nun auch soweit selbständig zu lesen und sie plante, Yael ein Buch zu schenken: ein Märchenbuch - das hatte sie selbst damals sehr gemocht. Ihre Mutter Seva hatte ihr damals gerne daraus vorgelesen. Die Mutter seufzte. Wenn nur mehr Zeit wäre. Ob ihre Mutter noch das alte Buch aufbewahrt hatte? Sie müsste ihre Mutter anrufen. Mit dem Plan im Kopf löschte sie das Licht und verließ Yaels Zimmer.
ENDE
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